Wir Glücksritter - Selbstverwirklichung und Authentizität

Sich selbst verwirklichen. Ganz man selbst sein. Etwas Besonderes sein. Sind das nicht normale Wünsche? Zeitlose Ideale? Sind sie nicht. Sie führen auch nicht zwangsläufig zum versprochenen Glück. Enttäuschungen sind vorprogrammiert.

Unsere Arbeit soll Sinn stiften. Unsere Beziehungen sollen unser Selbst zu voller Blüte entfalten. Unsere Reisen sollen als authentisch-exotische Erfahrungen unserem Leben Tiefe geben. Unsere diversen Freizeitaktivitäten sollen unser einzigartiges Profil abrunden. – Egal wie wir unser Leben gestalten, egal wie unser Leben sich gestaltet, das Ziel ist klar: Selbstverwirklichung und authentisches Man-Selbst-Sein. Diese Feststellung hat, könnte man nun einwenden, keinen wirklich sensationellen Neuigkeitswert. Ist das nicht normal? Klingt das nicht nach erstrebenswerten Idealen und legitimen Anforderungen?

Heute mögen uns diese Ansprüche selbstverständlich erscheinen. Zeitlos, oder gar naturgegeben sind sie jedoch keineswegs. Tatsächlich sind sie ein Charakteristikum der Spätmoderne. „Das eigene Selbst soll in seiner Besonderheit entfaltet werden, die Suche nach authentischen Erfahrungen (in Beruf, Freizeit, Privatleben) wird zum Leitmotiv. Darin besteht die spätmoderne Authentizitätsrevolution.“, stellt der Soziologe Andreas Reckwitz fest.
Was heute normal erscheint, war noch bis in die 1970er Jahre deutlich anders. Durchschnittlich und angepasst, in Lebenslauf, Lebensführung und Persönlichkeit, galt als erstrebenswertes Ziel. Von der beruflichen Laufbahn, über Paarbeziehungen, Familienleben bis hin zu Urlaub und Hobbies: Ein unauffälliges Durchschnittsleben war nicht nur die Norm, es war sogar erwünscht. Fleißige Pflichterfüllung sollten den Lebensstandard sichern. Der Weg zum Lebensglück verlangte keine Extravaganz.
War es damals noch völlig in Ordnung, ja sogar erstrebenswert ein unauffälliges Mitglied der Gesellschaft zu sein, gilt es heute unsere Unverwechselbarkeit zu leben. Soziale Akzeptanz gewinnen wir nicht länger durch Anpassung und artige Pflichterfüllung, dazu müssen wir unser einzigartiges Selbst verwirklichen. Authentische Erfahrungen und sinnstiftende Tätigkeiten sollen die Lebensqualität gewährleisten.

Natürlich, nur weil die Dinge früher anders lagen, heißt das nicht, dass sie deswegen heute schlecht(er) sind. Allerdings müssen wir einsehen, dass unsere gegenwärtigen Ideale nicht ausschließlich glückliche, selbstverwirklichte und authentisch in sich selbst ruhende Menschen produzieren. Gerade unseren hohen Besonderheits- und Selbstentfaltungsanspruch beschreibt Andreas Reckwitz als „systematischen Enttäuschungsgenerator“. Eine kritische Reflexion scheint also angebracht.
Zunächst sind schon die Begriffe (und die ihnen inhärenten Ideale) bei genauerer Betrachtung etwas problematisch, weil diffus.
Authentisch bedeutet echt, kein Fake, kein so-tun-als-ob. Selbst wenn man eine soziologische Perspektive außen vor lässt (im Raum des Sozialen ist strenggenommen letztlich alles konstruiert), ist es gar nicht immer einfach festzustellen, was nun authentisch ist. Wann bin ich authentisch? Wer bin ich, wenn ich nicht ich selbst bin? Wenn ich zum Beispiel schlechte Laune habe, bin ich in dem Moment absolut authentisch grantig. Aber wäre es hier nicht vielleicht doch erstrebenswerter, den halbwegs umgänglichen Mitmenschen zu faken? Im sozialen Miteinander ist ein gewisses Maß an so-tun-als-ob manchmal schlicht ein Zeichen von sozialer Kompetenz.
Auch das Konzept der Selbstverwirklichung bringt nicht allein in der Umsetzung Schwierigkeiten mit sich. Gemeinhin versteht man unter Selbstverwirklichung die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, das Ausschöpfen der individuellen Potentiale, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und das Erreichen individueller Ziele. Kurz: Den eigenen Weg im Leben gehen, wie und wohin es mir entspricht.
Das klingt zweifelsohne verlockend, bedeutet aber zugleich, dass ich meine Potentiale, Ziele und Bedürfnisse zunächst einmal (er)kennen muss. Und dass ich mich entscheiden muss. Wir stehen heute vor einem Überangebot an Möglichkeiten in allen Lebensbereichen. Von Formen der Partnerschaft und des Familienlebens über Ausbildung, Arbeitsform und Arbeitsplatz bis hin zum Wohnort – überall bietet sich uns eine Fülle möglicher Varianten an. Nur alles zugleich, das geht sich in einem Leben nicht aus. Wir müssen uns entscheiden. Wir müssen wissen, was wir wollen. Und was wir wollen sollen.
Schließlich gibt es durchaus Konventionen für´s Außergewöhnliche. Nicht alles gilt. Die Doktorin der Kunstgeschichte in der Warteschlange des AMS hat durch ihre eventuelle Besonderheit nichts gewonnen. Alljährliche Urlaube an Facilty-Manager-Stränden sind eher nicht dazu angetan, uns zu profilieren. Lieber suchen wir gemeinsam mit Millionen anderer Individual-Touristen das authentische Reiseerlebnis. Im Alter von vier Jahren Geige spielen verspricht soziales Prestige (zunächst für die Eltern), Nachwuchs mit exzeptionellen Verhaltensauffälligkeiten eher weniger.

Außerdem lautet das Ziel und Dogma nicht nur Selbstverwirklichung, sondern erfolgreiche Selbstverwirklichung. Selbst wenn die Hürden der Introspektion und Entscheidungsfindung gemeistert sind, gilt es noch eine weitere Anforderung zu erfüllen: Wir müssen das Ergebnis unserer Selbstentfaltung, unser ganz besonderes Leben, für die anderen (glaubwürdig) als solches darstellen. Wir müssen unsere Authentizität performen. (In diversen sozialen Medien zu Beispiel.) Letztlich ist unsere Selbstverwirklichung – und damit unser persönliches Glück – mithin auf die Beurteilung durch andere angewiesen.

Enttäuschungen bleiben nicht aus. Eigentlich dürfte uns das nicht weiter verwundern. Der Anspruch auf Selbstentfaltung + soziale Anerkennung + Erfolg (am besten in allen Lebensbereichen) muss zwangsläufig zu Spannungen führen. Nicht für alle geht der Plan auf. Die meisten erkennen früher oder später: Auf irgendwas müssen wir verzichten. (Nicht jede Ausbildung führt zum Traumjob. Nicht jede Karriere ist ohne Knick. Nicht jede berufliche Ambition ist mit dem Familientraum vereinbar. Nicht jede Beziehung hält, was wir uns von ihr versprechen. Nicht alle zollen unseren Aktivitäten die erhoffte Anerkennung.) So manche unserer persönlichen Erwartungen bleibt unerfüllt. Wir bleiben dann enttäuscht, voller Kummer, Selbstzweifel oder Wut zurück. Verrennen und verbrennen uns bei dem verzweifelten Versuch, den Ansprüchen an unser Leben gerecht zu werden. Psychische Überforderung und daraus resultierende Leiden sind nicht ohne Grund ein zentrales Problem der Spätmoderne.

Man kann also zusammenfassend feststellen: Es ist verzwickt. Unsere hehren Ideale sind Hoffnungsträger und Enttäuschungsgenerator gleichermaßen. Unseren Ansprüchen einfach abzuschwören kann wohl keine Lösung sein. Wir sind eben Kinder der Spätmoderne. Die Welt in der wir heute leben prägt uns unvermeidlich und in ihr müssen wir unser Leben auch bestreiten. Aber vielleicht hilft es ja, die Sache einmal auch aus dieser Perspektive zu betrachten.

Lektüre zum Thema:

  • Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. (Berlin 2017).

  • Diana Lindner, Das gesollte Wollen. Identitätskonstruktion zwischen Anspruchs- und Leistungsindividualismus. (Wiesbaden 2012).

Martina Nothnagel