Mobilität für die Massen: Die Vespa, von einer kühnen Idee zum Kultobjekt

Kaum ist der Winter zu Ende, wagen sich auch die ersten Mopedfahrer wieder auf die Straßen. Viele davon rollen auf dem Kultroller schlechthin durch die Frühlingsluft: Einer Vespa. Sie ist kein bloßes Moped, sie ist Lifestyle, ist ein Lebensgefühl. Ihre Geschichte aber beginnt in einer wenig zauberhaften Zeit. Es ist eine Geschichte vom Elend der Nachkriegszeit, von mutigen Visionen und großen Träumen, von Mobilität und einem Stückchen Freiheit für alle.

Der Motor summt, der laue Fahrtwind streift über den Körper. Man kann ihn förmlich riechen, den Duft der Toskana. Sonne, sorglose Leichtigkeit, dolce vita. Fährst du eine Vespa, fährst du ein Lebensgefühl. Ein Lebensgefühl allerdings, in krassem Gegensatz zu jener Zeit, in der alles begann. Die Geschichte der Vespa hat ihren Anfang in einem Italien mit wenig dolce vita:
Es ist 1945, der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Vier Jahre Krieg und zwei Jahrzehnte faschistische Diktatur sind vorbei. Mussolini ist tot und Italien liegt in Trümmern. Armut, Hunger, Massenarbeitslosigkeit, galoppierende Inflation. Es mangelt an allem. Land und Menschen sind gezeichnet von den Folgen des Kriegs, von der Gräuel des faschistischen Regimes.
Auch Industrie und Infrastruktur liegen darnieder. Der Großteil der Industrieanlagen und Fabriken ist zerstört von den Bomben der Alliierten, Häfen und Straßen schwer beschädigt. An einen Wiederaufbau, eine Wiederaufnahme der Produktion ist meist nicht zu denken. Was hätte man aber auch produzieren sollen? Große Anschaffungen konnte sich niemand leisten, die Bürger nicht und auch nicht der Staat.

Zu den Betroffenen gehört auch Enrico Piaggio. Das Familienunternehmen der Piaggios war seit den 1930er Jahren einer der führenden Flugzeughersteller Italiens, hatte sich aber schon davor mit der Produktion von Eisenbahnwagons und Schiffsteilen einen Namen gemacht. Nun sind die meisten Werkanlagen zerstört oder zumindest schwer beschädigt. Darunter auch das Luftfahrtzentrum in Pontedera, das noch bis vor kurzem 7 000 Angestellte beschäftigt hatte. Als Fabrikationsort von Kampfflugzeugen war auch dieses Werk ein strategisches Angriffsziel der Alliierten gewesen.

Was also tun? Was konnte Piaggio mit den verbleibenden Mitteln produzieren? Mit den Resten von Maschinen für den Flugzeugbau und mit Arbeitern die genau dazu geschult waren? Es musste außerdem ein Produkt sein, das auch im Elend der Nachkriegszeit Käufer und Interessenten finden würde. Erschwinglich musste es also sein und die Bedürfnisse der Menschen aufgreifen. Und er hatte es eilig, lange Versuchsreihen konnte Enrico Piaggio sich nicht leisten.
Aber es gab da tatsächlich etwas, das die Italiener sich sehnlich wünschten und womit das Unternehmen Piaggio Erfahrung hatte: Mobilität.

Mobilität als Luxus
Autos, Autofahren, Autobesitzen – heute scheint das selbstverständlich. Unsere individuelle Mobilität wird höchstens eingeschränkt durch immerzu verstopfte Straßen oder den verlorenen Kampf um den letzten freien Parkplatz. Allerdings sind Autos in Europa erst seit den 1960er Jahren ein solches Massenkonsumgut.
In Italien wurde beispielsweise der Fiat 500 „Topolino“ („kleine Maus“) schon unter Mussolini produziert. Die erste Version kam 1936 auf den Markt und war Teil des Motorisierungsprojekts des faschistischen Regimes. Die Produktion von Autos sollte den Menschen nicht nur Mobilität bringen, sie sollte vor allem auch Arbeitsplätze schaffen und aller Welt zeigen, welch modernes, innovatives Land Mussolinis Italien doch war. Anschaffungskosten und Verbrauch aber machten sogar den kleinen Topolino zu teuer für die breite Masse. Noch in den 1950er Jahren kamen in Italien nicht einmal 10 Autos auf 1 000 Einwohner.
Ähnlich verhielt es sich übrigens auch mit Hitlers Motorisierungsplänen für Deutschland. Der KdF-Wagen (VW-Käfer) wurde zwar seit 1938 produziert, war aber erst in den 1960er Jahren auch für Durchschnittsbürger leistbar. 3 500 DM musste man noch in den 1950er Jahre für die günstigste Variante bezahlen. Ein Betrag, den bei einem Durchschnittsgehalt von rund 300 DM im Monat, nur wenige aufbringen konnten.

Kaum (leistbare) Autos, keine nennenswerte öffentliche Infrastruktur und Straßen in katastrophalem Zustand. So also sah es aus im Italien der Nachkriegszeit – die Menschen aber wünschten sich Mobilität.

Und Enrico Piaggio sah eine Lösung. Er wollte Italiens Transportprobleme lösen. Seine kühne Vision: Ein leistbares, privates Transportmittel. Ein Roller für jedermann und jederfrau. Handlich und wirtschaftlich im Verbrauch sollte er sein. Fahrkomfort und Fahrvergnügen sollte er bieten – und zwar für alle, für Männer und Frauen, für Jung und Alt.
Also machte man sich im Unternehmen Piaggio an die Arbeit, tüftelte an einem Konzept für ein solches Gefährt.

Sembra una Vespa
Das Mastermind hinter der ersten Vespa war Piaggios genialer Ingenieur Corradino D’Ascanio (der im Übrigen später Professor an der Universität von Pisa wurde). Vor der Vespa kam allerdings noch eine Ente: Der erste Versuch, der Prototyp MP5, von den Arbeitern wegen seines bulligen Aussehens “Paperino”, Donald Duck, genannt, entsprach nicht Piaggios Ansprüchen und Vorstellungen. Frustriert übertrug er die Aufgabe kurzerhand D’Ascanio, einem Mann, der wenig für Motorräder übrig hatte, dessen Leidenschaft eigentlich Hubschraubern galt. Der aber offenbar dennoch genau der Richtige für diesen Job war: Innerhalb nur weniger Wochen erschuf er eine Innovation an Technik und Design. Einen Roller, ganz anders als alles bisher Dagewesene.
Als Motor verwendete er zunächst den Anlassmotor eines Flugzeugs. Der Fahrzeugkorpus bestand aus gepresstem Stahlblech – beides überaus praktisch für eine Fabrik, die früher Flugzeuge hergestellt hatte. Aber auch das Design war neuartig: Der Fahrer (oder die Fahrerin) konnte bequem aufrecht sitzen. Stoßdämpfer gab es noch keine, aber ein vollgefederter Sitz sorgte dennoch für Fahrkomfort. Ein Beinschild schützte gegen Wind und Wetter. Die Abdeckung des Motors durch blecherne Seitenbacken sorgte dafür, dass die Kleidung nicht mit Öl und Schmutz in Berührung kommen konnte.
Als Enrico Piaggio das Gefährt zum ersten Mal sah, entfuhr es ihm (so die Legende): „Sembra una vespa.“ – „Sieht aus wie eine Wespe“. Und viola: Die Vespa hatte ihren Namen.

Modell V.98
Als „offizieller Geburtstermin“ der Vespa gilt der 23. April 1946. An diesem Tag meldete Piaggio&Co S.p.A. beim Zentralpatentamt in Florenz ein „Motorrad mit einem rationalen Komplex aus Funktionseinheiten und Elementen sowie einer Karosserie mit verbundenen Kotblechen und einer Abdeckung sämtlicher mechanischer Teile“ zum Patent an. Der Öffentlichkeit wurde dieses Motorrad von General Stone, dem Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte höchstpersönlich, in einer feierlichen Zeremonie präsentiert.
Diese erste Vespa, Modell V.98, wog 80 kg, schaffte eine Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h (was angesichts der damaligen Straßenverhältnisse durchaus beachtlich war), hatte einen Verbrauch von 3,5 Litern und war in hellem Grau gehalten, ähnlich der Farbe, wie wir sie heute von Flugzeugen kennen. Das Basismodell konnte man für 55 000 Lire erstehen. Für 66 000 Lire bekam man eine „Luxusversion“ mit einigen Extras, wie einem Seitenständer, einem Tacho und schicken Weißwandreifen.

Rolling on
In Presse und Öffentlichkeit gingen die Meinungen zu diesem neuartigen Gefährt zunächst stark auseinander. Manche reagierten skeptisch, prophezeiten einen grandiosen Flop, andere waren auf Anhieb begeistert, nannten den Roller ein technisch geniales Wunder der Originalität.
Recht behalten sollten Letztere, wenn auch nicht sofort. Richtig in Fahrt kam das „Vespa-Wunder“ erst Ende 1947, mit der Einführung des Modells 125. 1954 verließ die zweimillionste Vespa die Fabrik in Pontedera. Noch in den 1950er Jahren hatte sie Fans und Abnehmer auf der ganzen Welt, von Europa über Amerika bis nach Asien.

Auch wenn die ersten Vespas 1946 noch keinen reißenden Absatz fanden, heute sind diese Oldtimer begehrte Sammlerstücke. 2017 beispielsweise wurde die älteste erhaltene Vespa, die dritte jemals gebaute, um über 300 000 Euro versteigert.

Ein Stückchen Freiheit
Enrico Piaggio hat seine Träume wahrwerden lassen. Er ist nicht allein der Begründer einer Stil-Ikone. Gemeinsam mit Fiat war Piaggio der Hauptakteur der Massenmotorisierung Italiens. Nicht umsonst gilt er als „the man who put Italy on wheels“.
Nach dem Elend der Nachkriegszeit verschaffte die Vespa den Menschen die ersehnte Mobilität, brachte ihnen ein Stückchen Freiheit. Machte Style und Design leistbar für alle. Machte ein Motorrad fahrbar für alle. Sie stand für nationalen Stolz in einer angeschlagenen Nation, für wirtschaftlichen Aufschwung nach einer langen Zeit der Entbehrung. Und bedeutete nicht zuletzt eine praktische Erleichterung im Alltag.

Noch ein letzter Hinweis zum Abschluss: Immer noch am Puls der Zeit, und der Zeit vielleicht ein wenig voraus, soll noch dieses Jahr die erste E-Vespa auf den Markt kommen. Eingeschworenen Fans wird das charakteristische Motorsummen fehlen – die Umwelt aber wird es Piaggio danken.

Lektüre zum Thema:

  • www.museopiaggio.it/en/history
  • Davide Mazzanti, Vespa. Italian Style for the World. (2008).
  •  Andrea Rapini, La Vespa, histoire sociale d'une innovation industrielle. In: Actes de la recherche en sciences sociales 2007/4, 72-93.
Martina Nothnagel